Wow, wie mutig!

Oft höre ich den Satz: „Wow! Ich finde es so mutig, wie offen du damit umgehst.“ Vor zehn Jahren schon haben das Menschen zu mir gesagt, wenn ich ganz offen von meiner Endometriose-Erkrankung und damit einhergehenden Darm-Operation erzählt habe. Ein paar Jahre später waren viele total beeindruckt, wie offen und für jeden sichtbar ich mit den leidenschaftlichen Gefühlen umgegangen bin, die ich plötzlich für eine Frau empfand. Und neuerdings werde ich dafür bewundert, wie offen ich mit meinem künstlichen Darmausgang umgehe.

Ich freue mich jedesmal, wenn ich diesen Satz höre, und bedanke mich für das Kompliment. Trotzdem bleiben jedes einzelne Mal meine Gedanken bei diesem Satz hängen und er geht mir tagelang nicht aus dem Kopf. Wow… Wie mutig…!?! Wenn ich das höre, klingt es zunächst zwar schön, aber das Gefühl, dass in mir übrigbleibt, ist komisch. Und nicht ganz so schön.

Erst vor ein paar Tagen bin ich draufgekommen, warum ich mich nicht mehr wirklich freuen kann, wenn man mich – in diesem Zusammenhang – mutig nennt. Ich weiß, dass alle, die das zu mir sagen, mir ein ganz ehrliches Kompliment machen wollen. Und trotzdem stelle ich mir neuerdings die Frage:

Warum soll es mutig sein, einfach ich zu sein?

Ja, die Endometriose ist Teil meines Lebens. Ja, ich liebe eine Frau. Ja, ich habe einen künstlichen Darmausgang. That’s me! Ich bin auch Yogalehrerin. Mein Lieblingsgemüse ist Brokkoli. Ich bin ein Landkind, das sehr gern in der Stadt lebt. Ich liebe Champagner. Und ja, ich schaue Germany’s Next Tompmodel. That’s also me. Und für meinen offenen Umgang mit meiner Brokkoli-Sucht hat mich noch niemand bewundert.

Natürlich sehe ich den Unterschied. Welches Gemüse man mag und ob man lieber in der Sadt oder auf dem Land lebt, ist zwar interessant, aber alltäglich. Es ist sozusagen „normal“, wenn man so ist. Eine Erkrankung zu haben, die die Menstraution betrifft und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr verursachen kann, ist in den Köpfen vieler schon nicht mehr ganz so „normal“. Auch eine homosexuelle Beziehung zu leben oder in einen Beutel am Bauch zu kacken, entspricht nicht der mehrheitlichen Norm.

Und weil das so ist, leben viele Menschen, die der vermeintlichen Norm nicht entsprechen, eher zurückgezogen. Leise. Unauffällig. Wollen nicht als „anders“ identifiziert werden. Geben lieber vor, irgendeinem Ideal zu ensprechen, das die Gesellschaft vermeintlich vorgibt oder von dem sie glauben, dass andere es an sie stellen. Aber anders ist nicht schlechter.

Anders ist einfach nur anders!

Es gibt Menschen, die von Kindesbeinen an so ticken. Denen egal ist, was andere sagen, die sich selbst umarmen und ihr Sein zelebrieren. DAS finde ich bewundernswert. Ich musste das lernen. Auch ich habe lange geglaubt, ich müsste irgendwie sein, damit ich dazugehöre, damit ich liebenswert bin. Ich war eine Meisterin darin, mich zu verbiegen und zu verstellen, damit ich den (vermeintlichen!) Ansprüchen anderer gerecht geworden bin.

Und es war gar nicht anstrengend, mich selbst zu verleugnen. Jahrzehntelang war es mir nichteinmal bewusst. Es hat lang gedauert, bis ich das überhaupt bemerkt habe. Bis mir erst bewusst wurde, dass ich gar nicht so bin, wie ich mich gebe. Dass ich viel lieber so wäre, wie ich eigentlich bin. Ich habe gemerkt, dass die Selbstverleugnung mich nicht nur unglücklich sondern auch krank gemacht hat. Und als ich wirklich begriffen habe, was da schief läuft in meinem Leben, habe ich beschlossen, etwas zu verändern.

Dieser Aufbruch war wirklich mutig!

Das war es, was in der Rückschau wirklich Mut gebraucht hat. Zu erkennen, dass ein Großteil meines bisherigen Seins nicht authentisch war. Der Wille zur Veränderung. Mir Hilfe zu holen. Und ein neues Bild von mir zu erschaffen, das dem entspricht, wie ich mich innen drin fühle. Mich zu akzeptieren, genau so wie ich bin. Und mich zu lieben, auch an Tagen, an denen ich mich nicht so wahnsinnig gern mag.

Diese Neu-Geburt hat lange gedauert. Und oft bemerke ich, dass es kontinuierliche Arbeit bedeutet, auch bei mir zu bleiben und nicht wieder in alte Gewohnheiten zu tappen. Plötzlich hat man nämlich neue Bilder und Vorurteile – ja, auch man selbst. Plötzlich fragt man sich, ob man als Yogalehrerin überhaup noch Champagner lieben darf. Die trinken doch keinen Alkohol…, oder? Man fragt sich, ob man jetzt lesbisch ist, oder doch irgendwas anderes. Und ob man einen Behindertenausweis beantragen soll, weil das steuerliche Vorteile bringt, oder lieber doch nicht. Aber was ich mich schon lange nicht mehr gefragt habe, ist:

Bin ich gut wie ich bin?

Denn die Antwort lautet eindeutig: Ja! Der Weg zu dieser Erkenntnis hat gedauert und Mut erfordert. Ich habe irritiert, weil ich plötzlich anders drauf war, als man es von mir gewohnt war. Weil ich nicht mehr andauernd lieb und nett war, sondern auch mal „nein“ gesagt und es auch so gemeint habe. Freundschaften haben sich verändert, manche Verbindungen haben sich verlaufen und gelöst. Nicht mehr jeder „kann mit mir“. Ich will aber auch nicht mehr jedem gefallen und von jedem gemocht werden. Das wichtigste ist tatsächlich, dass ich selbst mich gut finde. Das ist nicht egoistisch oder großkotzig, sondern lebenswichtig!

Und seit ich mich selbst gut finde, ist es auch nicht mehr schwer, zu mir zu stehen. Es braucht keinen Mut, mich so zu zeigen, wie ich bin. Es ist ganz einfach, über meine Endometriose und die Beschwerden, die ich früher gehabt habe, zu reden. Ich muss mich nicht überwinden, offen mit meinem künstlichen Darmausgang umzugehen. Manchmal muss man mich eher bremsen, damit ich mein Stoma nicht gleich jedem zeige und erkläre, wie es funktioniert. Und ich habe keine Ahnung, wie ich es überhaupt hinkriegen sollte, nicht jedem zu sagen und zu zeigen, wie sehr ich meine Frau liebe.

Also: Sei mutig mutig und sei du!

Erforsche dich! Frag dich, was du für Leidenschaften hast. Was dich glücklich macht. Wie du leben willst. Wer du sein willst. Und wenn du auf dem Weg stolperst, sei mutig und hol dir Hilfe! Niemand muss allein mit sich und den großen Herausforderungen des Lebens fertigwerden. Korrigiere deinen Weg oder erfinde dich komplett neu. Egal wie und egal wann im Leben: Hab den Mut, du zu sein. Liebe dich! Dann wird es dir auch nicht mehr schwer fallen, offen zu sein und dich zu zeigen. Versprochen!

Foto: Selbstportrait

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